Einem Demenzkranken hört man auf jeden Fall zu!

Ein Interview mit zwei Demenzbetroffenen

Rainer H. und Manfred H. engagieren sich in der Alzheimer Gesellschaft Hamburg e.V. Beide sind an Demenz erkrankt, wenden sich derzeit öffentlich vielen Menschen zu und berichten aus Ihrem Leben mit der Erkrankung. Wir haben uns gefragt, was sie dazu bewegt, was sie anderen Menschen gerne näherbringen möchten und welche Erfahrung sie mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit machen. Im Juli 2024 haben wir darüber gesprochen.

Manfred H. (MH): Wie ich zu dieser Krankheit kam, das war 2020. Und so ein Geschenk ist natürlich ganz große Klasse, würde ich sagen, im ironischen Sinn. Das war halt sehr bitter und da fällst Du erstmal in ein Loch und das Tolle ist aber, Du bist nicht alleine. Ist aber auch zugleich traurig – es gibt viele, die auch dieses Geschenk bekommen haben. Deswegen sind wir auch so gerne hier in der Alzheimer Gesellschaft, dass es diese Institution überhaupt gibt... Und da machen wir verschiedene Sachen, auch Gedächtnistraining und so weiter, aber vor allem tauschen wir uns aus und das tut richtig gut. Und auch erzählen zu dürfen, wie es einem geht – also das finde ich toll. Weil alleine mit der Krankheit zu sein, das wär bitter.

Rainer H. (RH): Ja, Rainer H. 74 Jahre alt, verheiratet, vier wunderbare Söhne, sieben Enkelkinder, eine große Familie. War mein Leben lang eigentlich Banker, bis auf Anfang meines Lebensweges Reserveoffizier bei der Bundeswehr, über das jetzt auch so intensiv wieder gesprochen wird. Habe eine unglaublich intensive Zeit erlebt und mit dem Ausscheiden aus der Banktätigkeit – also man kann sagen, einen Monat später – ging das los mit der Demenz. Das ist vor sechs Jahren jetzt gewesen. Aber das hat man, wie Du ja auch erstmal, als „Naja, das ist eben so, ne?“ [aufgefasst], man vergisst mal was oder man wird eben belehrt „Das hab ich Dir schon mal gesagt“ oder ich weiß nicht was alles. Das entwickelte sich aber weiter bis irgendwann ich und meine Frau sagten „So jetzt, da müssen wir jetzt mal ran.“ Also: zum Neurologen gegangen vor drei Jahren – kristallklar Demenz und das studier ich jetzt intensivst, diese Krankheit, am eigenen Leibe. Ist ja auch eine neue Nummer, weil ich hab gesagt, „Wenn Du das schon hast, dann versuch da ein bisschen intensiver an das Thema ranzugehen“. Und wie es Manfred auch sagte, ist die Alzheimer Gesellschaft eine ideale Plattform, wenn man auch sich ein bisschen einbringt. Also nur sitzen und zuhören, das reicht nicht. Und die goldene Regel ist auch bei der Demenz, dass man sich soweit es möglich ist, oft die Frage stellt „Was kann ich noch?“. Das ist so entscheidend! Und dass man auch eine Selbsteinschätzung hat und vielleicht sich mal unterschätzt und dann wird aber ein anderer sagen „Da geht noch was!“. Das ist wie bei einem guten Trainer eines Clubs.

Und ich engagiere mich auch wie Manfred, aber ich noch ein Stückchen mehr, mit dem Thema Podcast, und Interviews geben, auch in größeren Runden und so weiter und wir beide hatten auch schon einen Auftritt hier in Wandsbek. Damit hat unsere Öffentlichkeitsarbeit gestartet. „Demenz ist nichts für Feiglinge, aber kein Grund aufzugeben!“ [war der Titel]. Und das hat eine unglaubliche Resonanz ausgelöst. Jetzt sind wir schon beim vierten und da steht noch eine weitere an im September. Also der Grund, weswegen wir das gemacht haben – es macht keinen Sinn, wenn man immer nur von der Kanzel erzählt, was Demenz ist. Sondern es macht Sinn, dass die Betroffenen was sagen. Die was sagen wollen. Das ist das große Problem, was wir haben, es mögen ja gar nicht so viele reden. Aber das ist so wichtig. Die Kommunikation ist wichtig, die Stimmungslage abzutasten, das Gefühl zu geben, man hat noch nicht verloren. Und diese Art von Findung hilft mir und ich denke Manfred auch sehr. Also wir brauchen da gar nicht so viel Medikation für, sondern wir machen das, was wir können, keine Rezepte oder sonst was. Es ist ein ganz breites Thema und es ist erstaunlich, wie gut die Natur es meint, wenn man sich damit so auseinandersetzt, dass nicht nur der Körper, sondern auch der Geist gefordert wird. Und das ist meine Mission, die zieh ich durch.
Und dann vielleicht noch einen Satz, einen letzten. Es ist ein verdammt gutes Gefühl unterschätzt zu werden. Weil das Stigma der Demenz ist ja schon was Mühsames – das Vorurteil, die wissen nicht was mit [einem] bereden sollen, die Öffentlichkeit tut sich ja schwer. Trotz 1,8 Millionen, die wir haben in Deutschland. Das geht aber besser. Das finde ich, ist auch ein guter Punkt, und da versuche ich auch noch so ein bisschen noch die Dinge zu unterstützen.

[Anm. d. Red.: Kurze technische Unterbrechung, während Rainer von seinem Sohn berichtet, der die früher geschauten Filme digitalisiert hat.]
RH: Der hat mir die Vergangenheit zurückgeholt. In dem ich die Bilder sehen konnte, die Filme sehen konnte, Stimmen hören… das ist mir so nah gegangen, wie man sich das überhaupt nicht vorstellt. Es ist eigentlich etwas völlig Selbstverständliches, aber für uns, die keine Vergangenheit haben – also keine haben in dem Sinne, dass sie keine erinnern... und ich hab eine sehr, sehr gute, da bin ich ganz sicher… – dieses Defizit ist ein großes Thema. Aber der große Glücksfall für mich persönlich ist, sich im Hier und Jetzt zu erleben. Über die Zukunft rede ich ganz gerne, aber auf die Vergangenheit… Das bringt auch nicht so viel. Also uns bringt das gar nichts, weil wir gar nicht mitreden können so richtig. (lacht, MH stimmt zu). Aber sich auch mit dem Thema auseinandersetzen, mit dem Bewusstsein, was wir haben für diese Krankheit, ist natürlich schon eine große Bestätigung. Und Bereicherung auch. Deswegen sind wir im Grundton positiv.

MH: Wir sind ja beide irgendwann mal bei der Alzheimer Gesellschaft gelandet. Und da gibt’s ja verschiedene Formate auch, verschiedene Gesprächsgruppen und so weiter. Und wenn Du Dich engagieren möchtest, kannst Du das eben auch tun als Betroffener. Und ich finde das sogar super, wenn man als Betroffener das macht, weil wir authentisch erzählen können, wie es uns geht. Und nicht nur, wie die Ärzte denken, dass es uns geht. Das ist ganz wichtig. Das haben wir beide immer wieder gesagt – wir wissen selber besser, wo wir Schwierigkeiten haben, wie es uns geht, als von den Äußeren. Das ist ganz, ganz wichtig für uns. Das ist ja auch wieder [etwas], was wir für uns behalten können sozusagen.

RH: Absolut richtig. Und da wir solche Musterschüler sind, jeder auf seine Weise, sind wir im Beirat gelandet. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, wo wir unsere Gedanken mit einbringen können. Der Beirat unterstützt den Vorstand, logischerweise, wie es eigentlich immer ein Beirat tut, nur hier ist er etwas lebendiger. Alle Mitglieder haben Demenz. Und haben von Anbeginn einen guten Draht gehabt. Aber der Nährboden bei der Alzheimer Gesellschaft, mit Jörn Wieking und seinen Damen… der macht das auf seine Weise. Und ich glaube, er freut sich, dass er uns hat, weil wir uns ergänzen, auch mentalitätsmäßig. Er macht sehr solide Arbeit und ich habe sehr darum geworben, Manfred in den Alzheimer Kreis hier in Wandsbek zu bekommen. Ist nicht einfach mit ihm, ne? Macht ja nicht alles sofort. (beide lachen) Aber wir passen da ganz gut zusammen und ich schätze auch seine Beiträge. Und das Gute ist, wenn wir auf der Bühne stehen, gibt´s eine ganz andere Spannbreite an Wahrnehmung der Gäste, die da sind. Jeder redet über seine Krankheit, aber auch nicht so postal, sondern einfach jeder, wie er es spürt und merkt. Da haben wir natürlich Unterschiede, das ist doch klar. Wenn Du nur alleine redest… Dadurch sind wir eigentlich zusammengekommen und dann hab ich dem Jörn gesagt: „Bitte nicht mehr akademische Vorträge. Ich krieg da eine Krise. Und Du bist ja auch für unsere Krisen mit verantwortlich.“ (alle lachen) „Lass uns reden. Lass uns reden.“ Und das hat er dankenswerterweise gemacht und die Resonanz ist überragend, das ist wirklich so…

MH: Ja. Vielleicht kannst Du noch erzählen, wo wir den Vortrag gemacht haben, wo Du den Termin gemacht hast, weißt Du das noch? An den Landungsbrücken?

RH: Ja, das erste Mal waren wir ja in Wandsbek, da waren ungefähr 50 Leute, das waren Kunden der Haspa. Toll alles vorbereitet und die kamen auch alle und hörten ganz biblisch zu. Besonders die Angehörigen, die haben ja ein großes Thema damit. Und ich habe eine gute Bekannte, die ist mit im Lions Club am Hafen. Und in den schönen Räumen, den Kuppelräumen da bei den Landungsbrücken, durften wir reden mit einem elitären Kreis von Damen und Herren, die keinerlei Demenz haben. Aber die sich das mit großem Interesse anhörten. Am Anfang war das so ein bisschen distanziert, oder, Manfred? (MH stimmt zu.)
Und dann – das kriegen wir ganz gut hin – dann holen wir sie einfach ab. Wenn auch einer mal gar nicht zuhört oder so, fängt an zu reden, dann grätsch ich rein. Es hat so viel Resonanz ausgelöst bei den Leuten, weil die ihre Vorurteile abgebaut haben, und das war ein schönes Ergebnis. „Wir haben da gar keine Ahnung gehabt.“ Bis auf einen Mann, der neben einer Frau saß, älterer Herr, der fing an zu heulen, weil er seine Familie sehr schwer belastet sieht mit dieser Krankheit. Und der war so dankbar und drückte mich zum Schluss und sagte „Das vergess ich Ihnen nie!“ Verstehst Du? Und das macht Spaß.
Die Menschen wollen ja davon informiert werden. Sie wollen es aber nicht unbedingt so sakral haben oder zu gedämpft und „Ach, ist alles Scheiße“. Ist nichts Scheiße in dieser Krankheit. Es ist so, wie es ist. Und das macht Spaß.

MH: Ja, genau. Ich hab mir mal ein bisschen was aufgeschrieben, nämlich in der Vorbereitung… Ja, es gibt so viele Krankheiten und ich kenne keinen Menschen, der keine Krankheit hat. Das ist eine Art Relation, das tut dann auch gut, also ich kenne wirklich keinen… oder kennen Sie jemanden, der kerngesund ist? Aus meiner Familie nicht, aus meinen Freundeskreisen nicht. Selbst Toni Kroos hat eine Krankheit, was weiß ich. Also jeder hat doch irgendeine Krankheit, oder? Jeder hat sein Päckchen zu tragen und das entlastet mich manchmal, dass ich sag, „Ich bin nicht das ärmste Schwein der Welt“, sondern jeder hat doch ein xyz. Verstehen Sie? Das hilft mir halt. Ist zwar auch gemein, zu sagen, aber mir hilft´s.

RH: Es gibt ja für unsere Krankheit keine Gebrauchsanweisung. Die gibt es nicht, für keine Krankheit gibt´s die eigentlich, aber für uns am wenigsten. Weil die so vielschichtig ist in ihrer Ausprägung. Und letztendlich leben wir immer noch in einem guten Verlauf dieser Krankheit. Wenn es zum Ende geht jetzt, würd ich sagen, die Geschichten können wir kaum ertragen. Ein großer Freund ist gerade verstorben, also das war ganz schrecklich. Es gehört zum Leben dazu, aber… Und da kannst Du noch so viel Kohle haben, wie Du willst, Du kriegst das Ding nicht gegriffen. Bis auf, dass es jetzt ein Medikament geben soll, das dagegenhält. Da sind allerdings noch nicht die ganzen Nebenwirkungen richtig im Griff. Man ist sehr weit eigentlich damit, aber ich sag mir immer – und wir beide sind ja auch davon überzeugt – Dein eigenes Handeln ist das Wichtigste, Du kannst das gut strecken. Und ich habe noch nie so klare Momente gehabt wie jetzt. Weil, die Vergangenheit belastet mich nicht mehr, über die Zukunft reden wir später. (lacht, MH stimmt zu) Und das Hier und Jetzt ist wirklich tief und das spüren die Menschen, das ist ganz gut so.

Das Hier und Jetzt und einfach nicht aufgeben. Und vielleicht auch mal darüber nachdenken, „Was kann ich von meiner Seite noch beitragen, dass meine Lebensqualität nicht so schnell absinkt?“. Aber ganz besonders für die Angehörigen, das ist die größte Belastung. In Holland gibt es ganz viele Wohngemeinschaften von Demenzkranken. Die sind schon in einer ganz anderen Lebensphase und das ist auf Bauernhöfen, auf dem Land auf jeden Fall. Und diese Lebensgemeinschaften, so wie unser Alzheimer Kreis, die kommen zusammen und sind sofort gut miteinander. Keiner hat Minderheit, Missgunst, sonst was, keiner misstraut dem anderen. Da fand ich es so bemerkenswert – das hab ich in dieser einen Diskussion auch erfahren dürfen – dass die eine Schlange an Bewerbern von Pflegern haben, die wollen da alle hin. Und das zeigt mir, was Du aus der Krankheit auch machen kannst. Und die Demenzkranken brauchen Kommunikation und Gemeinschaft. Und die Angehörigen sind zu einem überwiegenden Teil völlig überfordert. Was ich auch verstehen kann, letztendlich. Wenn es in die letzte Phase geht.

MH: Aber die Angehörigen haben ja auch Gruppen. Das ist ja ganz wichtig, meine Frau geht auch zu einer Gruppe, um da das Ganze aufzuarbeiten.
Ich hab aber noch einen Aspekt [Anm. d. R.: liest Interviewfrage vor] „Was möchten Sie von anderen Menschen gerne wissen oder hören?“. Das haben Sie ja geschrieben, genau, und ich hab hingeschrieben „Wie wirken wir für gesunde Menschen und wie können wir den gesunden Menschen näherbringen, wie sie mit uns umgehen sollen?“ Oder, Rainer? Das ist so ähnlich, wie wir vorher schon gesagt haben – alle meinen, wie sie mit uns umgehen sollen, zu wissen. Und das wär so ein Aspekt, wo man sagen kann, „Was wollen wir nicht? Was wollen wir haben?“ und so weiter. Das ist noch nicht so weit ausgereift aus meiner Sicht. Das wär ein guter Punkt für kontinuierliche Verbesserung, wenn man es so ausdrückt. Dort, glaub ich, hat man noch Fleisch am Knochen (alle lachen), wenn man´s so sagt. Oder Rainer?

RH: Völlig richtig, Manfred. Die meisten Angehörigen haben keine Ahnung von ihren kranken Angehörigen… ob das die Ehefrau ist, die Kinder sind… Das ist wirklich eine Tragödie. Und die schlimmste Phase ist ja ganz am Schluss, wo der Erkrankte nicht mehr seinen Kreis erkennt. Also das ist nichts für Feiglinge, die Nummer ist wirklich ganz schwierig. Aber es gibt ja noch eine Phase davor und dass der Erkrankte sich noch mitteilen kann, ist so elementar wichtig. Aber es müssen auch die Angehörigen zuhören. Es gibt ja wieder da einige Klassen, die gar nichts machen und dann andere sind übervorsorglich, wo der Demenzkranke sich nur noch in der Südkurve bewegt. Noch nicht mal bewegt, sondern nur noch dasitzt und abwartet. Das ist doch Wahnsinn. Somit kriegst Du nie was in den Griff. Und das zu erzählen – das ist ja auch provokativ, weil die machen das ja auch aus Liebe und nicht aus Berechnung oder sonst was. Die helfen überhaupt nicht den Menschen damit. Aber die Bequemlichkeit hat natürlich auch seinen Charme. Auch bei den Demenzkranken. Und manchmal geht uns schon einiges auf den Senkel. Da bin ich sehr bei Dir.

MH: Und wenn ich Dich nochmal zitieren darf, Du hast immer gesagt, Du möchtest selbstbestimmt leben oder vielleicht sogar sterben. (RH stimmt zu) Also, wir sprechen da ja ganz offen drüber, aber die Ehefrauen wollen das wahrscheinlich nicht hören, also die sagen „Das Zeug brauchst Du mir gar nicht erzählen!“ Aber für mich ist das schon ein Thema! (RH stimmt zu)
Ich habe ja jetzt schon so viel Schwierigkeiten. Ich bin körperlich richtig gesund. Dann würde ich über Jahre da liegen, nichts mehr mitkriegen und meine Leute müssen mich pflegen und das kostet einen Haufen Geld, wir bekommen durch die Krankheit auch finanzielle Megaschwierigkeiten. Und deswegen würde ich, wenn es geht, am besten sagen „So, jetzt ist der Zeitpunkt richtig“. Aber ich kann auch total verstehen, dass meine Liebsten, also die Frau und die Tochter das nicht hören wollen. Aber wir haben halt jetzt was anderes im Kopf und das geht halt nicht zusammen. Das ist einfach ein nicht zu lösendes Problem. So ähnlich, meine ich, siehst Du das auch.

RH: Ja. Und das Schlimmste, was passieren kann – dass die Liebsten, wie Du sagst, nämlich sagen, „Das hat ja doch keinen Zweck mehr“. Die schreiben ihre Kranken ab, sagen „Denen noch was zu erzählen, das bringt eigentlich gar nichts mehr.“ Übrigens die Ärzte auch. Die Ärzte, auf die hab ich eine ganz schlechte Meinung. Die meisten sind nicht zu ertragen. Die haben auch nicht die Zeit oder Geduld oder sonst was. Da leben wir schon in einem ganz schönen Vakuum und das Schlimmste ist das Stigma. Also ich hab manchmal das Gefühl, wir sind ansteckend oder so. Das ist eine ganz, ganz herausfordernde Situation. Also ein bisschen mehr nachvollziehen, was in unserem Kopf vorgeht oder was Gefühle angeht. Und das ist ein Schlüssel. Die Gefühle der Demenzkranken haben eine hohe Intelligenz, weil sie so intensiv gelebt werden. Das ist eine der ganz wenigen Möglichkeiten der Kommunikation. Und die sind ja auch immer, die Gäste, besonders überrascht, wie offen wir die Dinge ansprechen und wie klar und auch nachvollziehbar. Und das gibt uns natürlich beiden auch einen unglaublichen drive. Und Spaß, macht wirklich Spaß.
[…]
RH: Humor ist ganz, ganz wichtig.

MH: Eine perfekte Droge für was Positives, oder? Wir lachen eigentlich viel zu wenig.

RH: Eigentlich schon. Und das lesen Sie alles nicht in irgendwelchen Publikationen. Das könnt ich Ihnen jetzt schon garantieren. Und das ist auch nicht schlimm. Dass wir was sagen dürfen, dass Sie uns zuhören, das ist genau unser Ding, das ist unser Ziel. […]
Das kann man auch nicht lernen, was wir machen. Das kommt aus einem selbst. Ich hab mich wahnsinnig geärgert am Anfang dieser Krankheit. Ich war in einer ziemlich hohen Position in der Bank. Wir beide haben einfach einen sehr guten Job gemacht. Aber wie ich den vermeintlich ganz vertrauensvollen Menschen gesagt habe, dass ich Demenz habe, hat sich die Hälfte verabschiedet. Einfach zurückgezogen. Und sich nicht mehr, und wirklich nie wieder gemeldet. Das hat mich massiv getroffen, hat aber den Vorteil, dass Du jetzt Freund und Feind besser auseinanderhalten kannst. Und die, die mir weiter die Treue gehalten haben, das ist die intensivste Freundschaft, die man sich überhaupt vorstellen kann. […] Solange die Menschen, die krank sind - losgelöst, was Du ja auch sagst, von der Demenz, gibt ja auch andere Krankheiten – und noch was Selbstbestimmtes machen können, so lange geht’s ihnen auch gut, da bin ich fest von überzeugt.

MH: Ich hätte auch noch einen Aspekt, der ist mir gerade eingefallen. Seitdem ich die Krankheit habe, meine ich zu glauben, wenn ich jemanden sehe, der Schwierigkeiten hat oder vielleicht eine Krankheit hat, kann ich mich ziemlich gut reinfühlen. Weil wir wohl ähnliche Schwierigkeiten haben. Das ist sensibler geworden, würde ich sagen. Früher hätt ich gesagt „Warum geht der so?“ Jetzt denk ich, „Mensch, echt schade.“ Also das ist ja das, was ich immer sag – jeder hat doch irgendwie ein handycap. Aber wir haben ein besonderes, leider. (lacht)

RH: Das Handycap ist für mich echt, fast ausschließlich nicht zurückgucken zu können, in die Vergangenheit. Aber das Hier und Jetzt, das ist ja ein Glücksfall. Und ich wiederhole sehr, sehr gern die Situation mit einer meiner Schwiegertöchter. Wir haben so ein Trampolin gekauft für die Enkelkinder. Und wir beobachteten die und dann fingen wir an über einige Themen zu sprechen. Und dann sagt sie „Rainer, wieso bist Du so klar und so positiv?“ „Ja“ sag ich, „A., das ist ganz einfach – ich nehme mir einfach die Zeit, Dich länger anzukucken und höre Dir zu und das ist keine Strafe.“ Sie war völlig sprachlos und wusste gar nicht, was sie sagen sollte (lacht), aber genau das ist es – Du nimmst Dir einfach mehr Zeit. Weil, was soll Dir denn weglaufen? Bis auf die Zeit. Und das, was Manfred sagt, die Sensitivität – die meisten haben gar keine Ahnung, was wir für Gefühle entwickeln können. Also ich heule auch regelmäßig.

MH: Ja, klar, ich auch.

RH: Das muss ich dazu sagen, also wenn ich so Oldies höre z.B., wo man genau weiß, „Was war das für eine schöne Zeit!“ Bin mit den Beatles groß geworden, ich war sogar in der Kneipe, wo sie angefangen haben. Und wenn ich die Beatles höre, dann kommen mir die Tränen. Wir haben eben auch eine ganz starke Gefühlswelt. Schon immer gehabt, aber bei mir kommt sie jetzt viel mehr noch zum Ausdruck. Und wenn man das weiß, dann ist das auch durchaus eine Bereicherung, finde ich, oder?

MH: Stimmt, ja, genau. Erzähl ich auch noch wieder einen Aspekt… Der Glaube ist ja auch noch ein Thema. Also ich bin jetzt kein extrem gläubiger Mensch, aber ich glaube, wenn es mal zu Ende ist, geht’s auch wieder weiter. Und ich sage immer zu mir selber, ich bin dann gestorben, wie das dann wird – also ich freu mich schon fast darauf. Das ist jetzt ein wenig provokant, aber ich hab da keine Angst, glaub ich. Mal schauen, wie es später wird, aber momentan... Wenn ich die Kriege ansehe, dann haben wir ganz andere Sorgen als was zu vergessen. Oder?

RH: Ja stimmt. Also ich „freu“ mich nicht so sehr darauf, in Anführungsstrichen, wie Du auf den Tod (lacht), aber ich habe großen Respekt davor.

MH: Ich auch!

RH: Aber dass das Leben weitergeht, davon bin ich fest überzeugt. Genauso wie Du. Das Schöne ist, ich brauch´s keinem nachzuweisen, das ist das Gute. (lacht)
MH: Nee, nee, und Du darfst ja auch ein bisschen spinnen und sagen „Mensch, vielleicht trifft man sich wieder mal, oder? Hast ein anderes Hemd an, aber…“ (lacht) Du musst ein bisschen auch „balla balla“ sein um daran zu glauben. Jeder hat so sein eigenen Mechanismus, damit klarzukommen. Du auch, oder?

RH: Absolut, absolut. Das große Glück, Menschen zu mögen. Auch die Demenzkranken, gerade die… und das ist mir hier im Alzheimer Kreis nochmal bewusst geworden. Also ich musste beruflich immer mit Menschen zu tun haben oder hatte viel zu tun. Das hat mir sehr geholfen in meinem Leben. Schön wär´s, wenn die Demenzerkrankten weiter sich motiviert fühlten, miteinander zu sprechen – also das Thema hatten wir jetzt wie ein roter Faden – damit sie auch einmal emotionell wieder abgeholt werden oder „Meine Meinung, da hört man noch drauf“ oder ich weiß nicht was. Einem Demenzkranken hört man auf jeden Fall zu, weil das eine völlig unerschlossene Thematik ist für die meisten. Und diesen Respekt, den man hat, den kann man durchaus nutzen. Leider, leider sind aber nicht alle Erkrankten so eingestellt, auch schon aus ihrer Vergangenheit heraus. Aber die, die es machen – und das ist eben ganz schön in Holland – da kommen Sachen hoch, das ist unglaublich. Die werden nochmal richtig entdeckt. Also sich selbst auch. Ich finde das bemerkenswert.

MH: Ich hätt wieder noch einen Aspekt, das passt gerade so. Als ich noch arbeiten durfte, mit der Krankheit, nach der Diagnose mit 52 Jahren, war ich ja im sogenannten betrieblichen Eingliederungsmanagement, BEM heißt das. Das ist einfach so ein Format bei den Firmen. Und da war ich eine Zeit lang, da hast Du Unterstützung bekommen, meine Frau durfte mir auch helfen. Und dann haben sie mich aber ziemlich früh praktisch abgeschoben, mit 55 Jahren. Und diese Wertschätzung, das war ganz, ganz bitter. Die hätten mir noch einfachere Tätigkeiten geben können, das sind 18.000 Mitarbeiter, die da arbeiten, da wär bestimmt ein kleiner einfacher Job für mich… dann hätt ich mein Gesicht wahren können. Und jetzt weine ich, weil ich nicht mehr arbeiten darf. Das war wirklich extrem bitter. Das kommt ja dann auch noch mit dazu, wenn Du dann Deinen Job verlierst. Oder gar nicht mehr arbeiten kannst. Das hat mich sehr traurig gemacht. Das muss ich wirklich sagen.

RH: Sehr gut nachvollziehbar, aber Du wirst keinen Vorstand erleben, der einen Mitarbeiter aus seinem Bereich oder Bereichsleiter fördert, weil er einen Demenzkranken in seinem Team hat.

MH: Naja, versteh ich.

RH: Weil sie nicht damit umgehen können, der Vorstand, der Betriebsrat… und wie sie alle heißen. Und ich muss Dir auch ehrlich sagen, Manfred, bevor ich diese Krankheit hatte, als ich noch voll im Saft war – was hat mich denn interessiert die Demenz? Keinen Schalk! Und wenn einer dement wär, hätt ich ihn nicht eingestellt, das tut mir schrecklich leid.

MH: Ist schon klar.

RH: Wir können nicht von der Kanzel aus sagen „Das ist alles schlecht.“ Das ist auch menschlich, was da abgeht. Aber ich bin bei Dir besonders einsichtig, weil das war nicht gut, was sie da gemacht haben. Das hätte man anders machen können. Du hast das ja nicht verursacht.

MH: Nee, eben!

RH: Und da fühlt man sich schon ziemlich mies. (MH stimmt zu) […]

MH: Uns geht’s ja noch gut, wir haben Freiheit, sag ich mal, wir können hingehen, wo wir wollen. Wir können einkaufen, wir haben ärztliche Versorgung. Das ist ja auch sehr gut. Du hast wahrscheinlich auch ein paar Tabletten im Schrank.

RH: Das kann man sagen!

MH: Ich habe acht verschiedene…

RH: Morgens oder abends oder zusammen?

MH: Alle zusammen. Also ich hab acht verschiedene pro Tag für alles Mögliche. Ich kanns mir gar nicht merken. Meine Frau und meine Tochter, die machen dann immer den Tablettenbehälter, den befüllen sie. Und wenn ich dann wieder was vergesse, dann ist Chaos. Deswegen stirbst Du nicht gleich, aber das sind alles so Dinge, die da mitschwingen.

RH: Ich würde mir wünschen, wenn die Öffentlichkeit noch ein Stückchen mehr Anteil nehmen würde an diesem Thema. Und auch die Leidtragenden, die, die Demenz haben, eine Motivation finden, mehr aus sich herauszukommen, mehr zu sagen. Und dass man das gut moderiert. Aber dass wirklich dieses Stigma Demenz weiterbearbeitet wird. Das geht auch mit in die Politik hinein. Was wir machen können, machen wir und wir werden wahrscheinlich noch ein bisschen weiter in dem Format arbeiten. Da bin ich ganz, ganz sicher.
Übrigens, die Dankbarkeit ist, glaube ich, das, was uns beide auch sehr motiviert. Der Betroffenen, aber auch der fürsorglichen Eltern, alle, die Anteil nehmen an dieser Krankheit in der Familie. Da zu unterstützen, das ist toll. Wie die eine Frau, die völlig fassungslos uns beide in Wandsbek gesehen hat und auch die Frage stellte, „Es kann doch nicht sein, dass man so positiv ist bei dieser Krankheit?“ Und da hab ich ihr gesagt, „Wenn wir noch lange zusammen sind, dann wird das noch fröhlicher“. (alle lachen) Und ja und wenn Du dann hinterher nachfragst, ist Mutter eben ganz schlimm erkrankt und geht nicht mehr aus dem Zimmer, nicht mal nur aus dem Haus – „Die geht mit mir nicht mehr mit“. Und da hab ich ihr gesagt „Das liegt an Ihnen. Wenn Sie sie mitnehmen und sie zu Wort kommen lassen, wenn sie draußen ist, dann geht’s. Aber wenn Sie immer nur gefragt werden als Gesunde – wie stellen Sie sich das vor? Die hat keine Lust mehr.“ Pause. Also ein bisschen kokettieren mit der Krankheit macht auch Spaß, weil die Voreingenommenheit schon bemerkenswert ist. Aber nachher sind sie ganz, ganz ruhig. Und wenn einer ganz frech ist und sagt „Ach, Sie haben Demenz?“ – „Ich würde mal zu Ihrem Arzt gehen, vielleicht haben Sie auch eine.“ (alle lachen, Zustimmung MH) Dann ist Pause, absolute Pause, da kommt nichts mehr. Also das weiterzumachen, das ist auch unser Anliegen, tut uns auch ganz gut. […]

MH: Es gibt ja auch noch positive Dinge, die man mit der Krankheit z.B. machen kann. Das hab ich in der Alzheimer Gesellschaft auch mal gesagt. Das ist ja eine Behinderung, die wir haben, und vielleicht kann der eine Behinderte auch dem anderen Behinderten [helfen] im Sinne von – ich bin Demenz und einer sitzt im Rollstuhl, ich schieb den Rollstuhl, er kennt sich aus mit dem Weg und wir sind beide an der Luft. Also solchen einfachen Dinge… Und beide sind happy und haben dann gemeinsam was gemacht.

RH: Beide haben eine Aufgabe.

MH: Aber da scheiterts ja manchmal. Der möchte gerne unterwegs sein und raus und beide hätten dann was Positives gehabt. Solche Sachen zu fördern. […] Und deswegen ist es so toll, dass wir im Beirat eben sind von der Geschichte, weil wir, glaub ich, gut mitfühlen und erzählen können, wie das wirklich ist. Und nicht, wie es der Doktor sagt. Oder Rainer?

RH: Genau so. (lacht) Manchmal auch ein bisschen frech. (MH stimmt zu.) Geht aber nicht anders.


Ganz herzlichen Dank für das Gespräch!
Hannah Büttner, Selbsthilfeberaterin

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